Brief des nationalen palästinensischen BDS-Ausschusses an den Stadtrat von München

22.11.2017

Categories: Angriffe gegen BDS, BDS-Argumente

Betreff: Antrag “Gegen jeden Antisemitismus! – Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung (boycott, divestment and sanctions)”

Sehr geehrte Stadträte und Stadträtinnen der Landeshauptstadt München

Das BDS National Committee (BNC), das breiteste Bündnis der palästinensischen Zivilgesellschaft, grüsst Sie aus Ramallah im israelisch besetzten Westjordanland. Gleichzeitig bedauern wir zutiefst den unerfreulichen Anlass dieses Schreibens.

Der von Ihnen diskutierte Antrag erhebt den schwerwiegenden Vorwurf des Antisemitismus gegen unsere Menschenrechtsbewegung und sieht vor, gegen Personen und Organisationen, die unsere Bewegung in der Stadt München unterstützen Sanktionen einzuleiten. Als direkt Betroffene erwarten wir im Namen von Fairness, dass Sie unserer Stellungnahme zu diesem Vorwurf Aufmerksamkeit schenken und diesen Antrag nicht unterstützen:

1. Der Ihnen vorliegende Antrag verschweigt, dass die Definition des Begriffs “Antisemitismus”, welche der Verurteilung der BDS- Bewegung zugrunde liegt, von der EU-Agentur für Grundrechte abgelehnt wird.

Bereits 2013 erklärte die EU-Agentur für Grundrechte (Agency for Fundamental Rights, FRA),dass die sogenannte “EUMC Arbeitsdefinition” niemals eine brauchbare und für die EU gültige Antisemitismusdefinition darstellte, und dass diese deshalb zusammen mit anderen nicht-offiziellen EU-Dokumenten von der Webseite der FRA gelöscht wurde.

Trotzdem wird dieselbe Definition seit 2016 als “Arbeitsdefinition Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (International Holocaust Remembrance Alliance, IHRA)” weiterhin verbreitet, unter anderem auch in o.g. Antrag an die Stadt München.

Die IHRA selbst hat mittlerweile erklärt, dass die von ihren Mitgliedsstaaten angenommene Arbeitsdefinition nur aus den zwei umrahmten Sätzen besteht:

„Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann (?). Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische (?) Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. (Hervorhebungen hinzugefügt)

Diese verwirrende IHRA-Arbeitsdefintion ergibt nur dann Sinn, wenn man auch akzeptiert, was darüber hinaus postuliert und illustriert wird: dass Antisemitismus sich nicht nur gegen Juden und Jüdinnen richtet, sondern auch gegen den Staat Israel und diejenigen, die seine Politik unterstützen.

2. Das Argument, die BDS-Bewegung sei antisemitisch, weil sie sich gegen den Staat Israel als “jüdisches Kollektiv” richte, ist völkerrechtlich und faktisch unhaltbar.

Wie im BDS-Aufruf (2005) der palästinensischen Zivilgesellschaft ersichtlich, zielt die BDS-Bewegung auf:

a) Beendigung der israelischen Besatzung und Kolonialisierung aller arabischen Gebiete; b) Aufhebung von Diskriminierung und volle Gleichstellung der palästinensischen StaatsbürgerInnen Israels; und, c) das Recht auf Rückkehr und Wiedergutmachung für die palästinensischen Flüchtlinge.

Es wird behauptet, dass der Staat Israel auf der Basis der IHRA-Arbeitsdefintition als “jüdisches Kollektiv” zu verstehen ist, und dass die BDS-Bewegung mit diesen Zielen als antisemitisch einzustufen sei. Dieses Urteil beruht jedoch auf völkerrechtlich und faktisch unhaltbaren Argumenten:

  • Obwohl es keine internationale Definition des Antisemitismus gibt, ist anerkannt, dass es sich dabei um Rassismus und Rassendiskriminierung gegen jüdische Personen (nicht einen Staat) im Sinne der Internationalen Konvention (ICERD) handelt. Die BDS-Bewegung verurteilt jede Form von Rassismus und Rassendiskriminierung, inklusive Antisemitismus. BDS-Kampagnen richten sich niemals gegen israelische StaatsbürgerInnen oder andere Personen aufgrund ihrer jüdischen oder israelischen Identität.
    Im Gegenteil, viele von ihnen sind Teil der BDS-Bewegung. Bei BDS geht es ausschliesslich um die Politik des Staates Israel und die damit verbundenen schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts, welche auch von der UNO und EU verurteilt werden, sowie um universale Menschenrechte, die auch für PalästinenserInnen gelten.

  • Der Staat Israel als “jüdisches Kollektiv”: Tatsächlich definiert sich Israel politisch und in seiner Gesetzgebung als “Staat des jüdischen Volkes”, welcher jüdische BürgerInnen anderer Staaten miteinschliesst und seine palästinensischen StaatsbürgerInnen ausschliesst. Tatsache ist aber auch, dass viele jüdische Menschen weltweit nicht vom Staat Israel vertreten werden und dies auch nicht wünschen.
    Zugleich widersprechen Gesetze und Verständnis, welche Israel als “jüdisches Kollektiv” definieren, Israels Status und Verpflichtungen als Staat gemäss Völkerrecht. Auf der Basis von Völkerrecht ist Israel, wie jeder andere Staat, ein Staat seiner BürgerInnen und dazu verpflichtet, die Menschenrechte seiner Bevölkerung zu respektieren und zu schützen. Dies gilt auch für die Grundrechte seiner palästinensischen Bevölkerung auf Rückkehr, Eigentum, Nicht-Diskriminierung und Gleichbehandlung. Gemäss Völkerrecht existiert kein Recht auf Selbstbestimmung eines jüdischen Volkes auf Kosten des international anerkannten Rechts auf Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, und es gibt kein Recht für Israel als Besatzungsmacht, palästinensisches Land zu kolonisieren und zu annektieren.
    Demnach haben politische Kritik, BDS-Kampagnen und Resolutionen der UNO oder EU, welche Israels Verantwortlichkeit für diese universalen Standards einfordern, nichts mit “doppeltem Standard” oder Dämonisierung des Staates Israel oder mit Hass gegenüber jüdischen Personen und Antisemitismus zu tun.

  • Israels “Recht auf Existenz” und Recht auf Selbstverteidigung: Gemäss Völkerrecht beruht die Existenz eines Staates auf der Anerkennung durch andere Staaten, und Staaten haben ein Recht auf Selbstverteidigung gegen Aggression seitens eines anderen Staates.
    Beide sind irrelevant für die Beurteilung einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die zu einer strikt gewaltfreien BDS-Kampagne aufruft, um einen Staat dazu zu bewegen, seine Politik in Einklang mit völkerrechtlichen Standards zu bringen.

Fazit: die zivilgesellschaftliche BDS-Bewegung für palästinensische Menschenrechte hat nichts mit Antisemitismus zu tun und nichts mit einem "Recht auf Existenz und Selbstverteidigung" des Staates Israel – genauso wie die internationale Boykottkampagne gegen Apartheid in Südafrika nichts mit Rassismus gegen Weisse oder mit einem "Recht auf Existenz und Selbstverteidigung" des Staates Südafrika zu tun hatte.

3. Zur Klärung von Missverständnissen und Fehlinterpretationen von politischen Positionen des palästinensischen BDS National Committee (BNC):

Politische Positionen der BDS-Bewegung basieren auf dem Konsens des breiten Bündnisses der im BNC vertretenen palästinensischen Zivilgesellschaft. Sie sind auf der Webseite des BNC (http://bdsmovement.net) öffentlich dargestellt. Politische Positionen des BNC, welche von SprecherInnen in Interviews oder Artikeln wiedergegeben werden, sind stets als solche deklariert. Darüber hinaus respektiert das BNC die Meinungsfreiheit seiner Mitglieder, auch von Gründungsmitgliedern wie Omar Barghouti. Es ist daher inkorrekt und unzulässig, die persönlichen Meinungen von Mitgliedern als politische Positionen der BDS-Bewegung zu interpretieren.

Das BNC bezieht keine Position bezüglich der Ein- oder Zweistaatenlösung. Mitglieder des BNC vertreten verschiedene Meinungen zu dieser Frage. Die politischen Positionen des BNC beschränken sich auf die Forderung nach den drei Grundrechten, die im Rahmen jeder politischen Lösung zu erfüllen sind (BDS-Aufruf von 2005).

Das Ziel der Beendigung der israelischen Besatzung und Kolonialisierung aller arabischen Gebiete im BDS-Aufruf bezieht sich nicht auf das international anerkannte Territorium des Staates Israel: Gemäss humanitärem Völkerrecht ist ein Besatzungsregime immer ein temporäres Militärregime. Dieses Ziel bezieht sich daher auf alle arabischen Gebiete, die 1967 von Israel militärisch besetzt wurden und bis heute von der UNO als “seit 1967 besetzte arabische Gebiete” bezeichnet werden: das palästinensische Westjordanland (inklusive Ostjerusalem) und der Gazastreifen; sowie die syrischen Golanhöhen.
Kolonialisierung bezieht sich auf Israels völkerrechtswidrige Siedlungs- und Annexionspolitik in diesen besetzten Gebieten.

4. Auch wenn die Stadt München solidarisch mit dem Staat Israel ist und Boykott, Desinvestion und Sanktionen nicht für ein geeignetes

Mittel zur Verwirklichung von palästinensischen Menschenrechten hält, so hat sie dennoch rechtliche Verpflichtungen (Grundgesetz der BRD):

Die Verpflichtung (Artikel 25 GG), das Recht auf Selbstbestimmung und andere Menschenrechte des palästinensischen Volkes zu respektieren und zu schützen, sowie die Verpflichtung völker- und menschenrechtswidrige Massnahmen Israels nicht als legitim anzuerkennen oder zu unterstützen; und die Verpflichtung (Artikel 5 GG), das Grundrecht auf Meinungsfreiheit all jener in Deutschland, die BDS unterstützen, zu respektieren und zu schützen.

Mehr als 200 ExpertInnen des Völkerrechts haben auf dieser Basis europäische Staaten aufgefordert, die BDS-Bewegung zu respektieren. Sowohl die EU als auch die Regierungen der Niederlande, Irlands, Spaniens und Schwedens haben öffentlich bestätigt, dass die Durchführung von gewaltfreien BDS-Kampagnen unter das Recht auf Meinungsfreiheit ihrer BürgerInnen fällt.

In der Hoffnung, dass Ihr Urteil letztlich von klarem Menschenverstand sowie Verständnis und Unterstützung von Völker- und Menschenrecht geleitet sein wird und Sie diesen und ähnliche Anträge ablehnen werden sowie jederzeit bereit, mögliche weitere Fragen Ihrerseits zu beantworten

Mahmoud Nawajaa

General Coordinator
BDS National Committee (BNC)

 

Veröffentlicht auf bds-kampagne.de

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