Vorschnelle Verteidigung der israelischen Union der Sozialarbeiter*innen

25.09.2018

Categories: Akademischer Boykott, Andere

Avenir Social, der Berufsverband der Sozialen Arbeit in der Schweiz, hat in einer Stellungnahme den Entscheid des Internationalen Verbands der Sozialarbeiter*innen kritisiert, Stellung für die Rechte der Palästinenser*innen zu beziehen und die israelische Union der Sozialarbeiter*innen als parteiisch zu betrachten. Mit folgendem offenen Brief an Avenir Social haben nun Sozialarbeiter*innen aus der Schweiz auf diese vorschnelle Verteidigung des israelischen Berufverbands reagiert.

Mehr Informationen zum Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen dem Internationalen Verband des Sozialarbeiter*innen und der israelischen Union folgen nach dem offenen Brief.

 

Offener Brief an Avenir Social

Avenir Social
Schwarztorstrasse 22
3007 Bern

 

Basel und Bern, 25. September 2018

 

Vorschnelle Verteidigung der israelischen Union der Sozialarbeiter*innen

 

Liebe Kolleg*innen

Mit grossem Erstaunen haben wir den offenen Brief von Avenir Social an die International Federation of Social Workers (IFSW) gelesen, in dem ihr die Zensur der IFSW an der israelischen Union der Sozialarbeiter*innen (IUSW) kritisiert.

Wir anerkennen, dass ihr euch für die Rechte von Munther Amira einsetzen wollt. Erstaunt hat uns, dass im offenen Brief die Parteinahme der IFSW gegen die IUSW als Teil des Problems bezeichnet wird. Wir sind überzeugt, dass, wer sich wirksam und nicht nur mit Lippenbekenntnissen für die grundlegenden Rechte von Palästinenser*innen einsetzen will, nicht umhin kommt, Partei zu ergreifen. Neutralität und Mediation, ansonsten unabdingbare Methoden zur Konfliktlösung, tragen hingegen im Kontext derart ungleicher Kräfteverhältnisse, wie sie zwischen der israelischen Besatzungsmacht und der palästinensischen Zivilbevölkerung herrschen, nicht zu einer Lösung bei. Vielmehr zögern sie eine solche hinaus.

Der politische Mediationsprozess hat in Israel/Palästina über 50 Jahre lang versagt und zu keiner gerechten Lösung geführt. Nach wie vor sind die Palästinser*innen einer massiven Repression ausgesetzt. Mediation hat nicht verhindert, dass Munther Amira für die Teilnahme an gewaltfreien Demonstrationen und den Protest gegen die Inhaftierung von Minderjährigen verhaftet wurde. Neutralität bedeutet zu schweigen, wenn das israelische Militär ganz generell alle palästinensischen Demonstrationen als illegal erklärt und damit die Meinungsfreiheit mit Füssen tritt. Vielleicht ist es an der Zeit, andere Lösungswege zu finden?

Wir als Sozialarbeiter*innen wissen, dass wir in gewissen Situationen Partei ergreifen müssen, um zu einer Lösung zu gelangen. Wir finden es deshalb richtig, dass sich die IFSW so entschieden positioniert. Die Definition von Sozialer Arbeit von 2014 erinnert uns an die Verpflichtung, uns auf die Seite von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit zu stellen. Soziale Arbeit soll gesellschaftlichen Wandel und Fortschritt fördern und ganz konkret das Empowerment und die Befreiung von Menschen unterstützen. Gerade wo Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit massiv verletzt werden, müssen wir diese Prinzipien hochhalten und aktiv fördern. Artikel 4.2.4 der ethischen Prinzipien der ISFW sagt dies sehr deutlich: „Social workers have a responsibility to promote social justice, in relation to society generally, and in relation to the people with whom they work. This means: … Challenging unjust policies and practices – Social workers have a duty to bring to the attention of their employers, policy makers, politicians and the general public situations where resources are inadequate or where distribution of resources, policies and practices are oppressive, unfair or harmful.“

Die IUSW scheint diese Prinzipien zu vergessen, wenn es um Palästinenser*innen geht.[1] Wir verstehen ihr Schweigen als Parteinahme für die rechte Regierungspolitik gegen die palästinensische Bevölkerung und Menschenrechtsverteidiger*innen. Entgegen eurer Behauptung hat die IUSW in der Vergangenheit in anderen Bereichen sehr wohl politisch gehandelt und zum Beispiel Erklärungen in Unterstützung für die Rechte von LGBTIQ*-Menschen veröffentlicht oder die politischen Proteste von Menschen mit Behinderungen unterstützt. Auch damit haben sie sich der Gefahr ausgesetzt, von der rechten Regierung angegriffen zu werden. Wieso sollen sie das nicht im Fall von Munther Amira machen?

Unverständlich ist die voreilige Verteidigung der Untätigkeit der IUSW auch angesichts der zahlreichen Gruppen und Organisationen in Israel, die sich sehr entschieden für die palästinensischen Rechte einsetzen. So wurde Munther Amira vor Gericht von einer israelischen NGO vertreten. An den von ihm als Mitglied des Popular Struggle Coordination Committee koordinierten Protesten im besetzten Gebiet beteiligen sich auch jüdische Israelis und israelische Gruppen wie Ta’ayush und B’Tselem. Dies nur als konkrete Beispiele, was möglich wäre. Wir würden uns natürlich freuen, wenn sich die IUSW diesen israelischen Menschenrechtsverteidiger*innen anschliessen würde. Wir befürchten aber, dass nicht die Angst vor Repression ihre Entscheidung bestimmte. Klar könnte der IUSW für einen solchen Einsatz von rechten Politiker*innen angegriffen werden. Doch das gleiche blüht ihnen für den Einsatz für die Rechte von LGBTIQ*-Menschen oder Menschen mit Behinderungen. Wir befürchten, dass die IUSW schlicht die Rechte von Munther Amira zu Protest und freier Meinungsäusserung nicht anerkennt und deshalb sich weigerte, die Freilassung zu unterstützen.

Erstaunt hat uns auch, dass die Rechte der Palästinenser*innen selbst von Avenir Social als „politisch“ bezeichnet werden. Hat die palästinensische Bevölkerung – ganz im Gegensatz zur jüdisch-israelischen – keine sozialen Rechte? Menschenrechte sind nicht verhandelbar und uns scheint ihre Bezeichnung als „politisch“ ein Delegitimierungsversuch, um sich von Verantwortung zu drücken. Auch wenn der Konflikt in erster Linie politisch ist, sind darin ebenfalls viele Aspekte von Sozialer Arbeit enthalten, darunter die Inhaftierung von hunderten Kindern und Minderjährigen (gegen die Amira protestierte, als er selber verhaftet wurde), die Verweigerung von Zugang zu sozialen Diensten unter der israelischen Verwaltung in den C-Gebieten des Westjordanlands, Beschränkungen der palästinensischen Bewegungsfreiheit, die den Zugang zu sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen nochmals massiv einschränken, oder die Zerstörung von Lebensgrundlagen durch anhaltende Vertreibungen. Die IUSW hat sich nie zu diesen Themen geäussert.

Genau so wenig verstehen wir, weshalb Ihr die Histadrut als angeblich progressive Kraft ins Spiel bringt. Angesichts der Aufgabe und Grösse der Gewerkschaft, sollte sie tatsächlich an vorderster Front für palästinensische Rechte einstehen. Stattdessen kommt diese Rolle häufig kleineren Gewerkschaften wie Kav Laoved oder Kaoch Lavdim zu, während die Histadrut gar nicht oder erst viel zu spät reagiert. Sie weigert sich auch, palästinensische Arbeiter*innen in Israel zu vertreten, obschon sie deren Gebühren einkassiert. Nur Bauarbeiter*innen werden offiziell über die "Hitahadut Boney Haaretz" vertreten, die Mehrheit der Arbeiter*innen muss anderweitig schauen, wer ihre Interessen vertritt. Wie sehr die Histadrut auch in anderen Belangen der rechten Regierung nahe steht und Gewerkschaftsarbeit vor allem im Sinn nationaler Interessen zu verfolgen, zeigte sich zum Beispiel 2011, als die Histadrut streikende Sozialarbeiter*innen im Stich liess und über die Köpfe der Streikenden hinweg mit der Regierung einen neuen Tarifvertrag beschloss. In der Folge liefen zahlreiche Sozialarbeiter*innen zu Kaoch Lavdim über.[2]

Wir bitten Avenir Social, sich nicht auf eine ideologische Verteidigung einzulassen, sondern mit wirklich progressiven Kräften in Israel/Palästina in Austausch zu treten, die die Prinzipien der Sozialen Arbeit auch tatsächlich hochhalten. Wir würden es sehr begrüssen, wenn ihr euch aktiv – und wenn es sein muss – parteiisch für die Wahrung der grundlegenden sozialen Rechte der palästinensischen Bevölkerung einsetzt.

Beste Grüsse,
Sozialarbeiter*innen aus der Schweiz:

Oliver Bolliger, Sozialarbeiter FH, BastA! - Grossrat Kanton Basel-Stadt

Christa Ammann, Sozialarbeiterin, Grossrätin Kanton Bern

Samuel Wanitsch, Sozialpädagoge i.R., Mitglied vpod, ex-Mitglied  Avenir Social

Jenny Bolliger, Soziokulturelle Animatorin FH

Samira Schmid, Sozialpädagogin FH

S. C., Sozialarbeiterin FH

H. B., Sozialpädagoge FH

Edith Thüring, dipl. Sozialarbeiterin i.R.

Michael Claussen, Sozialarbeiter lic. phil.

Julie Peradotto, Master en travail social HES-SO

Thomas Kuhn, ehemaliger Jugendsozialarbeiter

Vera Hug, Sozialarbeiterin FH

S. Mikael Eriksson, MAS Social Entrepreneurship


[1] Das zeigt sich zum Beispiel auch in ihrer Antwort an die IFSW, in der sie Partei für die repressive Staatsgewalt gegenüber legitimen Protesten der Palästinenser*innen ergreifen und sich weigern, die Forderung nach einer Freilassung von Munther Amira zu unterstützen. (Diese Antwort der IUSW ist unter dem offenen Brief auf der IFSW-Webseite zu finden).

[2] siehe https://www.akweb.de/ak_s/ak628/39.htm

Hintergrundinformationen zur Zensur der israelischen Union der Sozialarbeiter*innen

Der palästinensische Menschenrechtsaktivist, Sozialarbeiter und frühere Generalsekretär der palästinensischen Union der Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen Munther Amira wurde im Dezember 2017 vom israelischen Militär verhaftet. Grund dafür war seine Teilnahme an einer Demonstration gegen die systematischen Verletzungen der Rechte des Kindes durch Israel. Fast täglich werden im besetzten palästinensischen Gebiet Kinder und Minderjährige vom israelischen Militär verhaftet und von ihren Familien getrennt. Zu Zeit sitzen rund 300 Minderjährige in israelischen Militärgefängnissen - manchmal in Administrativhaft und ohne gerechte Gerichtsverhandlung.

Mit einem offenen Brief hat die International Federation of Social Workers (IFSW) die sofortige Freilassung von Munther Amira gefordert. Sie hat die israelische Union der Sozialarbeiter*innen (IUSW) ebenfalls zu einem Kommentar aufgerufen. Die IUSW hat in ihrer Antwort Partei für die repressive Staatsgewalt gegenüber legitimen Protesten der Palästinenser*innen ergriffen und sich geweigert, die Forderung nach einer Freilassung von Munther Amira zu unterstützen. (Die Antwort der IUSW ist unter dem offenen Brief auf der IFSW-Webseite zu finden)

In der Folge und nach einer Diskussion mit der IUSW hat die IFSW eine Zensur gegenüber dem israelischen Mitglied verhängt, da es "nicht als eine unabhängige Stimme des Berufstandes in Israel handelt und nicht im Einklang mit der Erklärung der Ethischen Prinzipien der Föderation arbeitet".

Avenir Social Schweiz, ebenfalls Mitglied beim IFSW, hat in einem offenen Brief diese Zensur verurteilt.

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